Mein Beitrag darüber, in welcher Hinsicht Essen schon seit meiner Teenagerzeit einen täglichen Kampf für mich bedeutet fand viel positiven Zuspruch und Tipps von euch. Vielen vielen Dank dafür.
Seitdem sind über zweieinhalb Monate vergangen und ich dachte ich erzähle euch, wie es mir zwischenzeitlich ergangen ist.
Mit so etwas an die Öffentlichkeit zu gehen, geht ja nun einmal nicht spurlos an einem vorüber. Wobei nicht der Artikel selbst bei mir Veränderungen ausgelöst hat, sondern es war vorher schon etwas in Gang geraten, dass das offene Schreiben erst ermöglicht hatte. Geführt hat er auf alle Fälle zu Verständnis, wo ich es nicht erwartet hatte, und ein paar hilfreichen und befreienden Gesprächen.
Maßnahmen – „Die Frau, die im Mondlicht aß“
Durch Zufall war ich auf das Buch „Die Frau, die im Mondlicht aß“ gestoßen. Geschrieben von einer Psychologin, die seit vielen Jahren mit essgestörten Frauen arbeitet und dabei gerne auf Märchen und Mythen zurück greift. Das Buch funktioniert so, dass sich jedes Kapitel ein gewisses Thema vornimmt, das zu Ess-Störungen führen kann und dies anhand einer Geschichte verdeutlicht, was oft ein ziemlicher Augenöffner ist.
Ich habe mir Zeit genommen. Täglich höchstens ein bis zwei Kapitel. Und dann gekuckt, was bei mir für Erinnerungen hochkommen. Und Mann; war das eine emotionale Achterbahnfahrt. Erst mal hat man das Gefühl, dass einem überall was einfällt und man fragt sich, was man doch für ein emotionales Wrack ist. Überhaupt reparabel? Aber dann wurde zumindest mir klar, dass man selbstverständlich Unmengen an Erlebnissen und Erinnerungen mit sich rumträgt, und nicht alle davon waren schön, aber sehr viele hat man dennoch gut überstanden und keinen Schaden erlitten.
Wie aber den Kern des Problems, des ewigen „muss essen“-Gefühls finden? Nachdem ich durch war, habe ich das recht unkonventionell gemacht und ein mancher mag gleich die Augen verdrehen, aber mir hat es geholfen: Ich habe eine Karte gezogen. Ich besitze ein Göttinen-Orakel-Karten-Set, zu dem es auch ein Buch mit Meditationen gibt und auf da sich alle paar Wochen mal zurück greife. Man kann daran glauben oder nicht, das Set ist in jedem Fall so gestaltet, dass man psychologisch damit arbeiten kann, ob man sich nun gezielt eine Themenkarte aussucht oder es dem Zufall überlässt.
Ich habe gezogen und war erst mal recht verdutzt. Das Thema erschien mir ganz unpassend, sowohl zu mir als auch zum Thema Essstörung. Aber dann machte es in meinem Langzeitgedächtnis plötzlich Purzel purzel, da wurden ein paar alte Akten entstaubt und hervorgekramt und bei mir kamen Erinnerungen an etwas total harmloses, was mal zu mir gesagt wurde; und die Tränen brachen los.
Das mit der Karte könnt ihr nun doof finden oder nicht, entscheidend aber ist: Was auch immer da alles hoch kommt, es gibt einen Knackpunkt, den man finden muss und mir war klar, dass ich an der richtigen Stelle angelangt war, als der Damm brach und ich weinen musste.
Fat Attack
Auch ein sehr guter Indikator dafür, dass man auf der richtigen Spur ist, ist ein Bewusstsein für „Fettattacken“. Das sind diese Momente, in denen man sich schlagartig 20 kg schwerer und schrecklich hässlich vorkommt. Von denen kann ich ein Lied singen. Die habe ich immer, wenn ich mich grade geschminkt habe, lange Ohrringe oder hohe Schuhe trage, sprich alles, was mich weiblicher macht.
Ich kann euch gar nicht sagen, was ich eine Woche lang für eine Krise hatte, weil ich auf eine Gala ging, bei der angemessene Abendgarderobe angesagt war. Eine meiner besten Freundinnen hat mich dann per Whatsapp durch die Klamotten-, Schuh- und Schmuckwahl geboxt, während sie mir unendlich gut zuredete, dass es okay war, so „weiblich“ zu gehen.
Gespräche
Ausgehend von diesem Punkt habe ich Gespräche gesucht. Ich habe das große Glück ein super Verhältnis zu meinen Eltern zu haben, mit denen man über alles sprechen kann. Wir unterstützen uns gegenseitig, wenn es darum geht Probleme und Verletzungen aufzuarbeiten und das konnte ich auch hier. Denn mehrere Puzzleteile fügten sich langsam zusammen. Das Thema Weiblichkeit und daraus resultierend mein Wert als Frau/Person sind bei mir offensichtlich eine riesige Baustelle.
Auch den Freunden gegenüber vieles offener anzusprechen hat richtig gut getan. Dass es bei den engen Freunden auch nichts ist, was ich verstecken muss oder wofür ich schräg angeschaut werde. Eher dieses Gefühl von „Oh Mann, jeder von uns hat seins zu tragen…gemeinsam korksig“
Und mein Essverhalten?
Ich würde jetzt gerne schreiben, dass mit meinen Erkentnissen von heute auf morgen der Spuk vorbei war und ich mich nur noch gesund und mit normalen Portionen ernähre. Dem ist natürlich nicht so.
Anita Johnston, die Autorin des oben genannten Buchs, vergleicht die Ess-Störung mit einem rettenden Ast, an den man gelernt hat, sich im wilden Fluss zu klammern. Kommt man endlich in ruhige Gewässer und könnte ganz einfach ins Ufer schwimmen, ist man es mittlerweile so gewohnt sich an den Ast zu klammern, dass es schwerfällt loszulassen. Und macht man es, kehrt man nach einigen Schwimmzügen immer wieder zurück. Dies macht man wieder und wieder, schwimmt dabei immer weiter von dem Ast weg, bis man ihn nicht mehr braucht und den Weg zum Ufer schafft.
Ich bin gerade am Wegschwimmen üben und das bringt einige neuen Verhaltensweisen mit sich:
- Das emotionale Essen ist mir plötzlich sehr bewusst. Gerade langweilig? Gestresst? Ich bekomme nicht die Anerkennung von anderen, die ich mir wünschen würde und selbst noch nicht geben kann? Ich sollte dies oder das aufräumen? Irgendwas zu knabbern muss her…
- Mein massives Bedürfnis nach Süßkram ist insgesamt zurück gegangen, mein Zuckerkonsum ist weit geringer, wenn ich auch einfach nicht komplett darauf verzichten kann.
- Haltet euch fest, ja, ich esse kleinere Portionen. Bei Nudeln messe ich konsequent 70 Gramm und der Rest der Mahlzeit wird Gemüse. Mr. Perfect und ich haben die Reisportion beim japanischen Sonntagsfrühstück halbiert, wenn es Rührei dazu gibt, reicht eine Scheibe Brot usw. Das ist nicht jeden Tag gleich, aber immer öfter.
- Ich trinke viel weniger Softdrinks. Beim Weggehen maximal einen Spezi oder Eistee, sonst nur Saftschorlen oder gleich nur Wasser. Jippie! Das Bild, dass man sich nach einem Glas Cola eigentlich übergeben müsste vor Zucker, wenn die Säure nicht drin wär, wirkt bei mir immer noch effektiv nach.
- Während ich noch lange nicht rein vegan lebe, verliert Käse mehr und mehr seine Attraktivität für mich. Das ist genial, weil ich immer dachte das passiert nicht. Käse schmeckt nun mal unverschämt gut.
Aktuelles Zwischenfazit
Alles rosig also? Nö. Denn es gibt solche und solche Tage. Und die letzteren führen dazu, dass ich zum Beispiel nach wie vor nichts abgenommen habe. Aber das kann alles werden. Momentan ist echt nicht leicht für mich. Alten Kram aufarbeiten ist anstrengend. Sich selbst so zu durchleuchten macht verletztlich und zumindest bei mir habe ich so ehrlich auf viel negatives geblickt, dass ich mich erst mal recht schrecklich finde. Aber es gibt wundervolle Leute, die mich lieben und auffangen, egal ob ich mich selbst gerade mag oder nicht. Und ich weiß, dass diese Phase erstens nötig ist (Phönix aus der Asche und so) und zweitens vorbei gehen wird. Und ich erzähle euch weiter davon, in der Hoffnung, dass es vielleicht jemandem da draußen auch hilft.
Alles Liebe,
Wow, das liest sich extrem spannend. Und irgendwie anders als sonst. Als ob du dich verändert hättest. Und das ist….ehrlich spannend. So viele Erkenntnisse, so viele Gedanken und so viel Ehrlichkeit. Das ist inspirierend!
Bitte berichte öfter! Und weiter so.
Vor allem das mit der Fatattack kommt mir soooo bekannt vor. Ich hab das derzeit ständig
Danke Dir. Es ist so unglaublich toll, dass Du das hier mit der Öffentlichkeit teilst. Das ist sicher nicht leicht und ich weiß es sehr zu schätzen! Denn in einigen Passagen finde ich mich selbst doch irgendwie auch wieder.
Zurzeit bin ich mehr als unzufrieden mit mir. Ich bin einiges von meinem persönlichen Idealgewicht entfernt und schiebe deswegen unglaublich viel Frust. Dabei ist es überwiegend nur der Bewegungsmangel, den der Arbeitsalltag im Büro mit sich bringt, der mir zu schaffen macht. Also nicht so ein gravierendes Problem, dass ich etwa meine Ernährung komplett umstellen müsste (gesünder essen würde mir keineswegs schaden und daran arbeite ich auch). Aber es ist dieses Gefühl… Ich muss irgendwie wieder lernen, dass ich mich mit mehr Bewegung und Sport belohne anstatt mich zu strafen. Die wirkliche Schwierigkeit ist wohl wirklich das Umdenken an sich und weniger das Umsetzen… So etwas Gemeines >_<
Ich wünsche Dir viel Erfolg und würde mich über weitere Berichte sehr freuen